Von A bis Z

B wie Briefkasten
(entstanden im Mai 2005 - zu einem Zeitpunkt, als alles noch ganz anders war...)

Der Briefkasten ist ein papierschlingendes Ungetüm. So ein quaderförmig konstruiertes, mit einem Schlüssel verschlussfähiges, klappenöffnendes Ungetüm. Niemand fragt ihn, ob er dort etwas abgelegt bekommen möchte. Es wird immer einfach hineingestopft, ohne seine tägliche Schwerstarbeit zu akzeptieren und anerkennungsvoll zu würdigen.


Jeden Tag gegen 10.30 Uhr mache ich mich auf den erwartungsvollen Weg nach unten. Was wird er mir heute eröffnen? Heute fragt er mich zum Beispiel, ob ich Zehen amputiert bekommen möchte. Ja, man lese und staune! Da sind auf dem Umschlag zwei Füße abgebildet. Der eine hat gar keine Zehen mehr und dem anderen sind drei Zehen verblieben. Ich stelle mir das sehr schmerzhaft vor und lasse deshalb den Umschlag zu. Ich fand bisher meine Zehen immer sehr schön. Aber ich verstehe nicht, was die Zehenamputation mit dem Slogan: 'Billig telefonieren' zu tun hat. Meines Wissens brauche ich zum telefonieren eine Hand, ein Ohr und ein Telefon. Was haben also Zehen mit dem Telefonieren zu tun? Ich halte doch den Telefonhörer nicht mit den Füßen, obwohl das durchaus im Bereich des Machbaren ist. Aber ich schweife ab. Es ging um den Briefkasten. Der täglich Unmengen von Papier in sich hineinschlingen muss. Und dem ich täglich den Schlüssel in sein Schloß ramme, wie ein Messer in den Bauch, um endlich den ersehnten Blick auf den Inhalt zu bekommen. Aufgeregt kreisen meine geheimsten Gedanken und Gefühle um seinen Inhalt. Was, oh was nur, hat er in seinem Schlund? Wird mich der Inhalt verschlingen? Oder gibt es freudige Nachrichten über Geburten, Hochzeiten oder Todesfälle? Oder muss schon wieder jemand auf der Tatsache herum hacken, daß ich wieder ein Jahr älter geworden bin? Erwarten mich liebevoll formulierte Werbeprospekte mit supertollen Werbegeschenken, die ich alle unbedingt brauchen müßte? Oder hat er kleine farbige Zettelchen in sich: Biete Zweiteinkommen, Kaufe ihr Auto, Suche alte Fernseher, Stereoanlagen. Oder bekomme ich diverse Post von einem Amt? Mit der liebevollen Mitteilung: Dieser Brief wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift rechtsgültig wirksam. Wenn ich Glück habe, ist gleich noch eine Strafandrohung auf bewußtem Schreiben. Aber das ist die Post, die ich nicht so sehr mag. Das klingt so nach erzieherischen Maßnahmen und inwieweit läßt sich ein erwachsener Mensch schon gern erziehen, wenn er es auch als Kind nicht mochte? Der erwachsene Mensch erzieht lieber selbst. Vor allem andere. Da fällt mir auf, ich schweife schon wieder ab - also zurück zum Briefkasten, der mir nun endlich seinen Inhalt preisgegeben hat. Ein Blick auf den Inhalt, kurzes nervöses Wühlen im wohlgeordneten Fach. Zuoberst buntschillernde Werbeprospekte, zuunterst die auf gewöhnlichem, großflächigen und fein zusammengefalteten Papier gedruckte Tageszeitung. Zwischen diesen beiden Extrema lagert, fein eingerahmt, gewärmt und scheinbar verharmlost, die brisante Post. Die Briefe, die ich nicht mag. Und hier scheiden sich die Wege für die Behandlung des Briefkastens. Entweder reiße ich die Post heraus, ramme ihn anschließend wieder zu und bin äußerst ungnädig zu ihm, weil er solch graue Umschläge mit Stempeln und liebeleer entworfene, maschinell erstellte Unterschriften enthält. Dann kann ich keine dankbaren Gefühle für seine tägliche Schwerstarbeit entwickeln. Ich wende ihm nach dem Schließen schnöde den Rücken zu und überlasse ihn wieder seiner Tätigkeit als postfressendes Ungetüm. Die Treppe hinaufhastend warte ich auf den Moment, die Post öffnen zu können. Aber ganz anders fühle ich mich dem Briefkasten verbunden, wenn er mir diese Briefe erspart. Vorsichtig schließe ich die Tür, drehe fast zärtlich den Schlüssel im Schloß und entferne langsam und gefühlvoll den Schlüssel. Ein kleiner Dank und ein etwas lauteres Aufatmen meinerseits ist dem Briefkasten dann auch gewiß. Ein letzter Blick voller Wärme, Dankbarkeit und Anhänglichkeit und ich wende mich beruhigt und erleichtert der Treppe zu und ersteige sie beschwingt. Der Briefkasten und ich haben sich dann für die nächsten 24 Stunden in tiefster Freundschaft getrennt, um am nächsten Tag mit der gleichen Prozedur wieder zueinander zu finden.

So, und nun möchte ich dem Briefkasten einmal ein paar nette Worte sagen, denn ich finde, er hat es verdient!


Lieber Briefkasten! Habe vielen Dank für deine Geduld mit einer manchmal etwas stürmischen und impulsiven Frau. Ich weiß, daß du an manchen Tagen viel zu erleiden hast, weil ich dir nicht genügend Zuwendung schenke. Aber du bist jeden Tag so geduldig und ich weiß, daß du mir keine bedrohliche Post schenken würdest, wenn es nach dir ginge. Du bist eben, was du bist: ein Briefkasten. Und ein Jeder hat die Möglichkeit, etwas in dich hinein zu befördern, ob du willst oder nicht. Aber den Inhalt muss ich ausbaden, ob ich will oder nicht. Also verzeih mir bitte die Nichtachtung. Ich hoffe, wir bleiben weiterhin gute Freunde, auch wenn uns manchmal eine Hassliebe verbindet.

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